Definition
Die multiple endokrine Neoplasie Typ 1 (MEN1; OMIM #131100) ist eine genetische Erkrankung, die auf Mutationen im MEN1-Gen beruht. Sie prädisponiert vor allem für Tumore der Nebenschilddrüsen mit primärem Hyperparathyreoidismus (PHPT), der pankreatischen Inselzellen und der Adenohypophyse (anterior pituitary neuroendocrine tumors, PitNET). Insgesamt beinhaltet das MEN1-Tumorspektrum über 20 endokrine und nicht-endokrine Tumore, die in verschiedenen Kombinationen auftreten können.
Eckdaten
< Tabelle seitlich verschiebbar >
Synonym | Wermer-Syndrom |
Gen | MEN1 |
Genprodukt | Menin-Protein |
Funktion | vermutlich Zellzykluskontrolle, Transkriptionsregulation und Aufrechterhaltung der genomischen Stabilität |
Erbgang | autosomal-dominant; etwa 10% de novo Mutationen |
Prävalenz | 1:20.000 – 1:40.000 |
Genotyp- Phänotyp- Korrelation |
unbekannt |
Penetranz | bezogen auf alle klinischen Manifestationen: über 50% mit 20 Jahren und über 95% mit 40 Jahren |
< Tabelle seitlich verschiebbar >
Diagnose
Genetische Diagnostik
Eine genetische Testung ist indiziert bei folgenden Personen:
Jede Person mit zwei oder mehr MEN1-typischen Tumoren
Jede Person mit einem MEN1-typischen Tumor und einem erstgradig Verwandten mit MEN1
Jede Person unter 30 Jahren mit PHPT, pankreatischen Vorläuferläsionen oder pankreatischem Inselzelltumor
Die Diagnose „MEN1“ wird gesichert durch den Nachweis einer heterozygoten Mutation des MEN1-Gens mittels Sequenz- oder Deletions-/Duplikationsanalyse. Auch der Einsatz von Panel-Untersuchungen, in denen mehrere Gene erfasst werden, kann sinnvoll sein.
Klinische Diagnosekriterien
Mindestens zwei primäre MEN1-typische Tumore (z.B. Nebenschilddrüsentumor, Inselzelltumor oder PitNET)
Bei Familienmitgliedern einer Person mit nachgewiesener MEN1 genügt ein MEN1-typischer Tumor
Differentialdiagnosen
MEN Typ 4
Primärer Hyperparathyreoidismus
MEN Typ 2
Hypophysenadenome
Zollinger-Ellison-Syndrom
Klinische Präsentation
Nebenschilddrüsenadenom und primärer Hyperparathyreoidismus
Häufigste MEN1-Manifestation, die bei 95% der Patienten auftritt
Bei 90% der Patienten die erste Manifestation, die meist zwischen 20 und 25 Jahren auftritt
Gekennzeichnet durch Hyperkalzämie
Gut differenzierte endokrine Tumore des gastro-entero-pankreatischen Traktes
Gastrinome treten bei etwa 40% der Patienten auf und manifestieren sich als Zollinger-Ellison-Syndrom. Das Erkrankungsalter liegt meist vor dem 40. Lebensjahr. 25% der Patienten haben keine positive Familienanamnese für MEN1.
Insulinome treten bei etwa 10% der Patienten auf. Das Erkrankungsalter bei MEN1-Mutation ist etwa 10 Jahre früher als bei sporadischen Insulinomen.
Glukagonome und VIPome treten ebenfalls bei MEN1 auf.
Tumore der Adenohypophyse
Treten bei 30-55% der Patienten auf
Bei 10% der familiären und 25% der nicht-familiären Fälle sind sie die erste Manifestation.
Häufigster Tumor ist das Prolaktinom, weniger häufig sind GH- und ACTH-produzierende Tumore, selten sind TSH-produzierende Tumore.
Karzinoide
Thymus-, Bronchus- und Typ-II enterochromaffine-like (ECL) Magenkarzinoide treten bei etwa 10% der MEN1-Patienten auf.
Thymuskarzinoide finden sich häufiger bei Männern als bei Frauen (20:1), Bronchuskarzinoide häufiger bei Frauen als bei Männern.
Thymuskarzinoide bei MEN1 sind sehr aggressiv und verlaufen häufig letal.
Nebennierenrindentumore
Treten bei 20-40% der MEN1-Patienten auf und sind nur selten hormonproduzierend
Kutane Tumore
Angiofibrome, Kollagenome und Lipome treten häufig im Rahmen einer MEN1 auf.
Besonderheiten bei der Behandlung
PHPT
Totale oder subtotale Parathyreoidektomie (über Umfang und Zeitpunkt wird kontrovers diskutiert)
Hypophysentumore
Prolaktinom: Dopamin-Agonisten (Cabergolin, Bromocriptin, Pergolid und Quinagolid)
GH-produzierende Tumore: Transsphenoidale Operation, Somatostatin-Analoga
ACTH-produzierende Tumore: Operative Entfernung des Tumors, Radiotherapie
Gut differenzierte endokrine Tumore des gastro-entero-pankreatischen Traktes
Gastrinom: Protonenpumpeninhibitoren (PPI), H2-Rezeptorblocker. Operatives Vorgehen wird kontrovers diskutiert und richtet sich v.a. nach Metastasierung und Operabilität des Tumors.
Insulinom und andere pankreatische Tumore: Operative Therapie
Karzinoide
Wenn möglich, vollständige Resektion. Sonst langwirksame Somatostatin-Analoga, ggf. Radio- oder Chemotherapie
Nebennierenrindentumoren
Operative Therapie bei Tumoren > 4cm Durchmesser, auffälligen radiologischen Zeichen oder signifikantem Größenwachstum
Empfehlungen zur Früherkennung bei Ihren Patienten
Empfehlungen zur Früherkennung
Insulinom
Screening-Start mit 5 Jahren
Klinik: Synkopen, Benommenheit, dokumentierte Hypoglykämie?
Labor (jährlich): Nüchtern-Glucose und Insulin
Neuroendokrine Tumore der Adenohypophyse (PitNET)
Screening-Start mit 5 Jahren
Klinik: Kopfschmerzen, visuelle Veränderungen, Galaktorrhö, gesteigertes Wachstum?
Labor (jährlich): Prolactin, IGF-1
Bildgebung: Kraniale MRT alle 3 Jahre
Nebenschilddrüsenadenom und PHPT
Screening-Start mit 8 Jahren
Klinik: Rückenschmerzen, Knochenschmerzen, Schwächegefühl, Müdigkeit, psychologische Veränderungen, Nierensteine, Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, multiple oder pathologische Frakturen?
Labor (jährlich): Kalzium
Neuroendokrine Tumore des Pankreas
Screening-Start mit 10 Jahren
Klinik: Meist asymptomatisch; VIPom: übermäßige Diarrhö?; Glukagonom: Hyperglykämie, Übelkeit, Polyurie, Durst?
Labor (jährlich): Evtl. Chromogranin A, Glukagon, Proinsulin, pankreatisches Polypeptid, VIP
Bildgebung: MRT-Abdomen jährlich
Nebennierenadenome
Screening-Start mit 10 Jahren
Bildgebung: MRT-Abdomen (zeitgleich mit Bildgebung des Pankreas)
Thymus-, Bronchus- und Magen-Karzinoide
Screening-Start mit 20 Jahren
Klinik: Meist asymptomatisch; Flush, Diarrhö, pfeifende Atmung, Ödeme oder Bauchmerz können hinweisend sein
Bildgebung: CT/MRT-Thorax und -Abdomen alle 1-2 Jahre
Gastrinom (duodenal oder pankreatisch)
Screening-Start mit 20 Jahren
Klinik: Bauchschmerzen, Magenulkus, Einnahme von PPI?
Labor (jährlich): Nüchtern-Gastrin