Definition
Das Von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL, OMIM #193300) ist eine genetische Erkrankung, die auf heterozygoten Mutationen im VHL-Gen beruht. Es ist charakterisiert durch Hämangioblastome (HB) des Gehirns, des Rückenmarks und der Retina sowie eine Prädisposition für klarzellige Nierenzellkarzinome (RCC) und Nierenzysten, Phäochromozytome (PHEO), pankreatische Zysten und neuroendokrine Tumore (NET), Endolymphatische Sack Tumore (ELST) und Zysten des Epididymis und der Adnexen.
Eckdaten
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Synonym | |
Gen | VHL |
Genprodukt | pVHL (Von Hippel-Lindau Tumorsuppressor) |
Funktion | Tumorsuppressor; ein Fehlen oder eine mutierte Form von pVHL verursachen durch die fehlende Bindungsfähigkeit von HIF an pVHL eine Akkumulation von HIF1α und dadurch Zellproliferation und Neovaskularisierung von Tumoren |
Erbgang | autosomal-dominant, etwa 20% de novo Mutationen |
Prävalenz | Die Inzidenz liegt bei etwa 1:36.000 |
Genotyp- Phänotyp- Korrelation |
Das VHL wird eingeteilt in 5 Typen, die mit verschiedenen Mutationen assoziiert sind:
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Penetranz | 100% im Alter von 75 Jahren |
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Diagnose
Verdachtsdiagnose
Eine genetische Diagnostik ist indiziert bei allen erstgradig Verwandten einer Person mit VHL-Mutation. Darüber hinaus besteht der Verdacht auf das Vorliegen eines Von-Hippel-Lindau-Syndroms bei Personen mit folgenden Befunden:
Retinales Angiom (Hämangioblastom), vor allem bei jungen Patienten
Hämangioblastom des ZNS
Klarzelliges Nierenzellkarzinom
Phäochromozytom oder Paragangliom
Endolymphatischer Sack Tumor (ELST)
Papilläre Zystadenome der Adnexen oder des Epididymis
Multiple pankreatische Zysten oder pankreatische neuroendokrine Tumoren (NET)
Multiple Nierenzysten
Diagnosekriterien
Die Diagnose „Von-Hippel-Lindau-Syndrom“ gilt als gesichert bei einer nachgewiesenen heterozygoten VHL-Mutation und/oder:
Bei negativer Familienanamnese bei Patienten mit mindestens zwei der folgenden Befunde:
≥2 Hämangioblastome der Retina, des Rückenmarks oder Gehirns, oder ein einzelnes Hämangioblastom in Assoziation mit einer viszeralen Manifestation (z.B. multiple Nieren- oder Pankreaszysten)
Nierenzellkarzinom
Adrenales oder extra-adrenales Phäochromozytom
ELST, papilläres Zystadenom der Adnexen/des Epididymis oder NET des Pankreas
Bei positiver Familienanamnese bei Patienten mit mindestens einem der folgenden Befunde:
Retinales Angiom
Hämangioblastom des Rückenmarks oder Kleinhirns
Adrenales oder extra-adrenales Phäochromozytom
Nierenzellkarzinom
Multiple renale und pankreatische Zysten
Genetische Diagnostik
Die Diagnose „Von-Hippel-Lindau-Syndrom“ wird gesichert durch den Nachweis einer heterozygoten Keimbahnmutation des VHL-Gens durch Sequenz- oder Deletions-/Duplikationsanalyse. Auch der Einsatz von Panel-Untersuchungen, in denen mehrere Gene erfasst werden, sowie eine Exom- oder Genomsequenzierung kann sinnvoll sein.
Differentialdiagnosen
Isoliertes Hämangioblastom, retinales Angiom oder klarzelliges Nierenzellkarzinom
TMEM127-assoziierte Prädisposition für Phäochromozytom
Birt-Hogg-Dubé (BHD)-Syndrom
Morbus Menière
Klinische Präsentation
Das klinische Bild ist abhängig von der zugrunde liegenden VHL-Mutation (siehe Genotyp-Phänotyp-Korrelation) und zeigt sich sowohl intra- als auch interfamiliär selbst bei gleicher Mutation sehr variabel.
Hämangioblastome
Hämangioblastome treten im ZNS und in der Retina auf und wachsen meist sprunghaft. Sie können je nach Lokalisation verschiedene neurologische Symptome wie Kopfschmerzen, Erbrechen, Ataxien, Gangbeeinträchtigungen, sensorische oder motorische Ausfallerscheinungen und Schmerzen sowie bei retinalem Auftreten Gesichtsfeldausfälle und eine eingeschränkte Sehfähigkeit verursachen. Sie können aber auch symptomlos verlaufen und fallen dann meist bei Früherkennungsuntersuchungen auf. Im ZNS treten 20% der Hämangioblastome im Rückenmark auf und 80% im Gehirn, dabei meist infratentoriell.
Manifestationen
Tumor | Risiko | Jüngstes/durchschnittliches Alter bei Diagnose (Jahre) |
---|---|---|
ZNS-HB
Kleinhirn |
60% – 80% 44% – 72% |
09 / 30 09 / 31 |
Retinales Angiom/HB | 25% – 60% | 00 / 25 |
Niere
Zysten |
25% – 75% 42% |
12 / 39 12 / 37 |
PHEO | 10% – 25% | 02 / 27 |
ELST | 10% – 15% | 06 / 22 |
Pankreas
Zysten |
35% – 75% 21% |
05 / 36 05 / 33 |
Papilläres Zystadenom
Epididymis |
25% – 60% 10% |
17 / 24 16 / unbekannt |
Besonderheiten bei der Behandlung
ZNS-Hämangioblastome
Vollständige operative Entfernung symptomatischer HB
Operative Entfernung asymptomatischer HB ist umstritten
Zysten des Rückenmarks sollten operativ entfernt werden
Präoperative arterielle Embolisation kann sinnvoll sein
Retinale Hämangioblastome
Prospektive Behandlung retinaler (nicht Optikusnerv-) Angiome wird favorisiert
Therapeutische Möglichkeiten sind Diathermie, Xenon, Laser- und Kryokoagulation mit variablem Erfolg je nach Lokalisation, Größe und Anzahl der Läsionen
External Beam Strahlentherapie als Option bei ausbleibendem Erfolg der Standardtherapie
Nierenzellkarzinome
Frühe operative Therapie:
- Wenn möglich unter Schonung der Nieren oder als partielle Nephrektomie
- Nebenniere sollte in situ verbleiben
Kryoablation oder Radiofrequenzablation sind Optionen bei kleinen Tumoren (<3 cm)
Nierentransplantation bei bilateral notwendiger Nephrektomie
Phäochromozytome
Operative Therapie
Präoperative α- und β-adrenerge Blockade auch bei nicht bestehender Hypertension sinnvoll
Partielle Adrenalektomie ist Therapie der Wahl bei Kindern und kann auch bei Erwachsenen in Erwägung gezogen werden
Pankreatische Zysten und NET
Zysten müssen in der Regel nicht operativ entfernt werden
Tumore sollten operativ therapiert werden bei einer Größe ≥3 cm, einer Mutation in Exon 3 oder einer Verdopplungsrate <500 Tage
Endolymphatische Sack Tumore
Frühe operative Therapie unter Berücksichtigung der möglichen postoperativen Taubheit
Papilläre Zystadenome
In der Regel ist keine operative Therapie erforderlich, solange sie keine Beschwerden verursachen oder die Fertilität bedrohen.
Empfehlungen zur Früherkennung bei Ihren Patienten
Empfehlungen zur Früherkennung
Altersunabhängig sollte jede Person mit Von-Hippel-Lindau-Syndrom eine jährliche klinische Untersuchung wahrnehmen. Bestandteile dieser ärztlichen Vorstellung sind Blutdruckkontrollen, neurologische Untersuchungen sowie die Evaluation von Seh- oder Hörverschlechterungen. Darüber hinaus sollten Personen mit VHL über Symptome und Zeichen der Erkrankung informiert werden. Idealerweise werden alle VHL-Patienten von einem mit dem Von-Hippel-Lindau-Syndrom vertrauten Arzt betreut, der auf ein multidisziplinäres Team zurückgreifen kann.
Hinsichtlich der einzelnen Manifestationen im Rahmen eines VHL schlägt die American Association for Cancer Research (AACR) folgende Früherkennungsempfehlungen vor:
Retinale Hämangioblastome
Jährlich augenärztliche Untersuchung inklusive Retina-Diagnostik ab Geburt
Phäochromozytome
Blutdruckkontrollen bei jeder ärztlichen Vorstellung ab 2 Jahren
Jährlich freie Metanephrine im Plasma (PFM) oder fraktionierte Metanephrine im 24-Stunden-Urin ab 2 Jahren:
- Wenn PFM ≥4x oberhalb des Referenzwertes: Vereinbar mit PHEO, Bildgebung zur Lokalisation sollte angeschlossen werden
- Wenn PFM 2x-4x oberhalb des Referenzwertes: Wiederholung der Untersuchung in 2 Monaten
- Wenn PFM marginal erhöht: Wiederholung der Untersuchung in 6 Monaten (oder Clonidin-Suppressionstest, zum Ausschluss falsch positiver Werte)
Endolymphatische Sack Tumore
Alle zwei Jahre Audiogramm ab 5 Jahren
ZNS-Hämangioblastome
Alle zwei Jahre (ab dem Erwachsenenalter ggf. jährlich) MRT-Schädel mit und ohne Kontrastmittel + Dünnschichtaufnahmen des inneren Gehörgangs ab 8 Jahren
Alle zwei Jahre (ab dem Erwachsenenalter ggf. jährlich) MRT-Rückenmark mit Kontrastmittel ab 8 Jahren
Nierenzellkarzinome
Jährlich MRT-Abdomen ab 10 Jahren (kann zusammen mit dem Screening für pankreatische NET erfolgen)
Pankreatische neuroendokrine Tumore
Jährlich MRT-Abdomen ab 10 Jahren (kann zusammen mit dem Screening für Nierenzellkarzinome erfolgen)
Weitere Informationen
Offene klinische Studien / Register
Im Moment gibt es keine offenen klinischen Studien/Register für Patienten mit dem Von-Hippel-Lindau-Syndrom, die wir Ihnen zur weiteren Information empfehlen.