Definition
Das Beckwith-Wiedemann-Syndrom (BWS; OMIM #130650) ist eine Multisystemerkrankung, die durch variable Charakteristika wie Makroglossie, prä- und postnatale Makrosomie, einseitig lateralisierten Großwuchs, neonatale Hypoglykämien und ein erhöhtes Krebsrisiko im Kindesalter, insbesondere für Nephroblastome, Hepatoblastome, Neuroblastome und Rhabdomyosarkome, gekennzeichnet ist.
Eckdaten
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Synonyme | Exomphalos-Makroglossie-Gigangtismus-Syndrom (EMG) Wiedemann-Beckwith-Syndrom (WBS) |
Gen | Komplexe epigenetische und intragenetische Veränderungen von elterlich geprägten (imprinted) Genen auf dem kurzen Arm von Chromosom 11(15.5-11p15.4). |
Genprodukt | IGF2 (Wachstumsfaktor), H19 (lange nicht-kodierende RNA), CDKN1C (Zellzyklusinhibitor), KCNQ1OT1 (lange nicht-kodierende RNA) |
Funktion | Komplex |
Erbgang | Wiederholungsrisiko und Erbgang variabel und abhängig von der molekulargenetischen Veränderung 10-15% familiär (v.a. CDKN1C-Mutationen), autosomal-dominant, hier abhängig vom Geschlecht des vererbenden Elternteils, bei nicht-familiärem Auftreten insgesamt niedriges Wiederholungsrisiko |
Prävalenz | etwa 1:10.340 Lebendgeburten |
Genotyp- Phänotyp- Korrelation |
Enge Korrelation für sämtliche klinischen Symptome vorhanden, Krebsrisiko bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres:
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Penetranz |
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Diagnose
Zum Beckwith-Wiedemann-Syndrom-Spektrum (BWSp) gehören
Klinische Diagnose
Die Diagnose kann klinisch an Hand von Haupt- und Nebenkriterien gestellt werden.
Bei ≥ 4 Punkten liegt klinisch ein klassisches BWS vor, bei ≥ 2 Punkten sollte genetische Diagnostik erfolgen. Die Hauptkriterien leiten zur Diagnose, die Nebenkriterien machen sie wahrscheinlicher.
Hauptkriterien (2 Punkte pro Symptom)
Nebenkriterien (1 Punkt pro Symptom)
Genetische Diagnostik
Die Chromosomenregion auf dem kurzen Arm von Chromosom 11 (15.5-11p15.4) beherbergt zwei funktionell unabhängige Domänen mit eigener Imprinting-Kontrollregion (H19/IGF2:IG DMR = IC1 und KCNQ1OT1:TSS DMR = IC2), deren Genexpression durch gestörte DNA-Methylierung (Hyper- und Hypomethylierung), paternale uniparentale Disomie und Punktmutationen verändert ist. Bei 80% der Patienten sind bekannte Veränderungen nachweisbar:
Zur genetischen Diagnostik sollte zunächst das Methylierungsmuster von IC2 und IC1 und die Kopienzahlvariation (CNV = copy number variation) zumeist mittels methylierungssensitiver Multiplex-Ligationssonden-Analyse (MS-MLPA) erhoben werden. Eine IC2-Hypomethylierung, eine IC1-Hypermethylierung und eine uniparentale paternale Disomie (upd(11)pat) werden so bereits diagnostiziert. Bei unauffälligem Befund in der MS-MLPA könnten eine CDKN1C-Mutation, ein nicht detektierbares Mosaik, ein seltenes balanciertes chromosomales Rearrangement oder eine bisher unbekannte Ursache für ein BWS (bis zu 20%) vorliegen.
Differentialdiagnosen
Klinische Präsentation
Das BWS präsentiert sich im Kindesalter mit variabel ausgeprägtem Phänotyp der oben genannten klinischen Charakteristika.
Insbesondere durch die Makroglossie (bei 85% vorhanden) und die Hypoglykämien mit hohem Glukose-Substitutionsbedarf (bei ca. 50% vorhanden) gelingt eine klinische Diagnose teilweise bereits in der Neonatalperiode. Die Neugeborenen entwickeln sich, abgesehen von zusätzlichen Symptomen und Komplikationen (Frühgeburtlichkeit, Bauchwanddefekte, schwer zu behandelnder Hyperinsulinismus), meist regelrecht und neurologisch unauffällig. Eine neurokognitive Entwicklungsverzögerung kann nach schweren neonatalen Hypoglykämie oder bei chromosomalem Rearrangement auftreten. Die Makroglossie kann durch Fütterungsschwierigkeiten, Atemwegsobstruktion und persistierende Hypersalivation zusätzliche Schwierigkeiten machen und circa 40% der Kinder erhalten eine operative Zungenverkleinerung.
Bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres haben Kinder mit BWSp abhängig vom Genotyp ein vielfach erhöhtes Krebsrisiko, so dass engmaschige Kontrolluntersuchungen (siehe unten) empfohlen werden. Vor der Pubertät gleicht das Tumorrisiko sich dem der Normalbevölkerung an. Im Erwachsenenalter sind die klinischen Symptome häufig sehr diskret oder nicht mehr identifizierbar.
Besonderheiten bei der Behandlung
Die klinische Symptomatik der Patienten mit BWS betrifft eine Vielzahl unterschiedlicher medizinischer Fachdisziplinen (Neonatologie, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Kinderorthopädie, Kinderonkologie) und erfordert eine interdisziplinäre Betreuung und Behandlung.
Die enge Epi-/Genotyp-Phänotyp-Korrelation insbesondere in Bezug auf das Tumorrisiko ermöglicht eine individuelle und zielgerichtete Vorsorge.