Was ist die multiple endokrine Neoplasie Typ 2?

Die multiple endokrine Neoplasie Typ 2 (MEN2) fasst drei Erkrankungen zusammen: Die multiple endokrine Neoplasie Typ 2A (MEN2A), das familiäre medulläre Schilddrüsenkarzinom (FMTC) und die multiple endokrine Neoplasie Typ 2B (MEN2B). Alle drei Erkrankungen sind gekennzeichnet durch hormonelle Störungen, daher die Bezeichnung „endokrin“. Sie basieren auf Mutationen, also genetischen Veränderungen im RET-Gen und die Betroffenen haben ein deutlich erhöhtes Risiko für medulläre Schilddrüsenkarzinome (MTC), eine Form des Schilddrüsenkrebses, und Phäochromozytome (PHEO), einen Tumor der Nebennieren. Daneben kann es bei MEN2A zu der Vergrößerung oder Tumoren der Nebenschilddrüsen kommen mit einer vermehrten Freisetzung des Nebenschilddrüsenhormons Parathormon, ein sogenannter primärer Hyperparathyreoidismus (PHPT). Bestimmte genetische Veränderungen zeigen eine Kombination aus MEN2A und einer Hauterkrankung, der kutane Lichenamyloidose, bzw. einer Darmerkrankung, dem Morbus Hirschsprung.

Wie wird die Diagnose multiple endokrine Neoplasie Typ 2 gestellt?

Klinische Diagnosekriterien

MEN2A:

Auftreten von mindestens zwei spezifischen endokrinen Tumoren (MTC, PHEO, Nebenschilddrüsenadenom/PHPT) bei einer Person oder bei nahen Verwandten

FMTC:

Mindestens vier Personen mit MTC ohne das Auftreten eines PHEO oder Nebenschilddrüsenadenoms/PHPT in einer Familie

MEN2B:

Früh-auftretendes MTC, Schleimhautneurome der Lippen und Zunge, verdickte Nervenfasern der Hornhaut des Auges, charakteristische Gesichtszüge mit verbreitertem Lippenrot und großem, schlankem Körperbau.

Genetische Diagnostik

Die genetische Diagnostik sollte durchgeführt werden bei allen Personen mit medullärem Schilddrüsenkarzinom oder bei der klinischen Diagnose MEN2. Durch den Nachweis einer genetischen Veränderung im RET-Gen kann die Diagnose MEN2 genetisch gesichert werden. Da bei dieser Untersuchung auch der genaue Ort der Mutation bestimmt werden kann, ist es möglich, die Erkrankung genauer einzugrenzen.

Wie hoch ist das Krebsrisiko?

Endokrine, also hormonelle Erkrankungen, die bei der MEN2 auftreten sind das medulläre Schilddrüsenkarzinom (MTC), ein bestimmter Schilddrüsenkrebs, das Phäochromozytom (PHEO), ein Nebennierentumor, und das Nebenschilddrüsenadenom bzw. der primäre Hyperparathyeroidismus (PHPT), eine vermehrte Freisetzung des Nebenschilddrüsenhormons Parathormon. MTC aufgrund von RET-Mutationen treten früher auf als MTC, die nicht auf einer genetischen Veränderung im RET-Gen basieren und betreffen etwa 25% aller MTC-Patienten. PHEO im Rahmen einer MEN2 treten häufig beidseitig auf.

MEN2A

Bei etwa 95% der MEN2A-Patieten entwickelt sich ein MTC, welches sich typischerweise durch eine Raumforderung im Bereich des Halses und dort lokalisierte Schmerzen äußert. Meist tritt das MTC vor dem 35. Lebensjahr auf und es hat in 70% der Fälle zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits in die zervikalen Lymphknoten gestreut.

Das PHEO tritt meist nach dem MTC oder zeitgleich auf, bei 13-27% der MEN2A-Patienten ist es die erste Manifestation. Im Rahmen einer MEN2A treten PHEO früher auf, sie zeigen weniger stark ausgeprägte Symptome und treten häufiger beidseitig auf als Tumoren, die nicht auf einer RET-Mutation beruhen. Etwa 4% der PHEO werden zu bösartigen Tumoren.

Der Hyperparathyreoidismus im Rahmen einer MEN2A zeigt eine milde Ausprägung und verläuft oft symptomlos. Mit einem Durchschnittsalter bei Diagnose von 38 Jahren tritt der PHPT deutlich später auf als das MTC.

In einigen Familien tritt das MEN2A in Kombination mit einer Hauterkrankung, der kutanen Lichenamyloidose auf. Auch ein gleichzeitiges Auftreten von MEN2A und Morbus Hirschsprung, einer Darmerkrankung, ist bekannt.

FMTC

MTC treten beim FMTC später und seltener auf als bei MEN2A und MEN2B. Das FMTC wird als Variante der MEN2A gesehen mit geringer Wahrscheinlichkeit für das Auftreten für PHEO und PHPT.

MEN2B

Charakteristisch für die MEN2B ist das frühe Auftreten aggressiver MTC bei allen Patienten, sofern keine prophylaktische Entfernung der Schilddrüse durchgeführt wurde.

PHEO treten bei etwa 50% der Patienten auf und sind oft beidseitig lokalisiert.

Die Nebenschilddrüsen sind bei der MEN2B nicht betroffen.

Im Rahmen einer MEN2B können ab dem Säuglings- oder frühen Kindesalter Schleimhautneurome auftreten. Die dabei bestehenden charakteristischen Gesichtszüge sind geprägt von prominenten Lippen mit kleinen Knötchen am Rand des Lippenrots. Daneben kann es zu Neuromen (Verdickungen der Nervenfasern) der Augenlider und verdickten Nerven der Hornhaut der Augen kommen. Des Weiteren besteht bei 75% der MEN2B-Patienten ein sogenannter marfanoider Habitus, der gekennzeichnet ist durch Hochwuchs, einen schlanken Körperbau mit verkrümmter oder verdrehter Wirbelsäule, laxen Gelenken und geringem Unterhautfettgewebe.

Etwa 40% der Betroffenen haben eine Ganglioneuromatose (Wucherung aus Nervenzellen und deren umgebenden Zellen) des Magen-Darm-Traktes, dessen Symptome meist im Säuglings- oder frühen Kindesalter auftreten.

Wodurch entsteht die multiple endokrine Neoplasie Typ 2?

Die MEN2 beruht auf einer Mutation, also einer genetischen Veränderung des RET-Gens. Dieses Gen kodiert für das RET-Protein, welches ein Rezeptor (sog. Tyrosinkinase-Rezeptor) an den Zellen unseres Körpers ist. Über diesen Rezeptor werden Signale über Zellwachstum und -differenzierung vermittelt. Liegt nun das RET-Gen in einer veränderten Form vor, kommt es zu einer Überfunktion des RET-Proteins, also zu einer vermehrten Aktivität des Rezeptors, so dass es zu übermäßigem Zellwachstum und damit zur Tumorentstehung kommt.

Die MEN2 tritt insgesamt bei etwa einem vom 35.000-40.000 Menschen auf und wird meist von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben. Der Erbgang ist dabei autosomal-dominant. Den verbleibenden Fällen (etwa 9% bei MEN2A und 50% bei MEN2B) liegt eine Spontan- oder Neumutation, man nennt das eine de novo Mutation, zu Grunde.

Gibt es eine Therapie?

Die Therapieempfehlungen bei der MEN2 richten sich nach der vorliegenden Erkrankung:

Medulläres Schilddrüsenkarzinom

  • Standardtherapie ist die Entfernung der Schilddrüse (Thyreoidektomie) mit Entfernung der umgebenden Lymphknoten (Zeitpunkt je nach Mutation, siehe Früherkennungsempfehlungen) und anschließender Hormonersatztherapie mit dem Schilddrüsenhormon L-Thyroxin.

  • Bei unvollständiger Entfernung kann eine ergänzende Bestrahlungstherapie in Erwägung gezogen werden.

  • Bestimmte Medikamente (Kinaseinhibitoren) können bei nicht vollständig entfernbaren oder gestreuten Tumoren das Wachstum aufhalten.

Phäochromozytom

  • Entfernung der Nebennieren (nur in Ausnahmefällen prophylaktische beidseitige Entfernung der Nebennieren bei einseitigem Tumor)

  • Ggf. ist eine medikamentöse Therapie vor einer Operation notwendig (alpha-adrenerge Blockade bei PHEO mit Katecholaminsekretion)

Schilddrüsenadenom oder -vergrößerung

  • Symptomlos: Unter engmaschigen Kontrollen zunächst keine operative Therapie erforderlich

  • Symptomatisch: Entfernung der Nebenschilddrüsen, bevorzugt wird die Entfernung der sichtbar vergrößerten Nebenschilddrüsen

  • Bei bekanntem PHEO sollte eine Entfernung der Nebennieren vor der Entfernung der Nebenschilddrüsen erfolgen.

Gibt es Maßnahmen zur Früherkennung von Krebserkrankungen?

Maßnahmen zur Früherkennung

Hinsichtlich der verschiedenen Erkrankungen, die im Rahmen einer MEN2 auftreten können, werden unterschiedliche Früherkennungsuntersuchungen durchgeführt:

Medulläres Schilddrüsenkarzinom

  • Die Entfernung der Schilddrüse ist Therapie der Wahl. Zeitpunkt der Operation und weitere Diagnostik richten sich nach der vorliegenden Mutation im RET-Gen (ein Codon ist eine bestimmte Stelle auf dem Gen):

    • „Highest risk“-Mutationen (Codon 918): Operation im ersten Lebensjahr
    • „High risk“-Mutationen (Codons 634 und 883): Operation bis zum 5. Lebensjahr, genauer Zeitpunkt abhängig vom Calcitonin-Spiegel im Blut (Calcitonin ist ein Hormon, das von einem MTC vermehrt ausgeschüttet wird)
      Jährlich Ultraschall der Schilddrüse und Calcitonin-Spiegel im Blut ab 3 Jahren
    • „Moderate risk“-Mutationen (alle anderen mit RET-Mutation): Operation im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter, abhängig vom Calcitonin-Spiegel im Blut und Mutation
      Jährlich Ultraschall der Schilddrüse und Calcitonin-Spiegel im Blut (Beginn abhängig von Mutation)
  • Bei 50% der MTC-Patienten tritt trotz vollständiger Entfernung der Schilddrüse und Entfernung der umgebenden Lymphknoten ein Rezidiv auf, daher werden postoperativ jährliche Calcitonin-Kontrollen empfohlen (höhere Frequenz bei bekanntem Rezidiv)

Phäochromozytom

  • Jährliche Laborkontrollen (freies Metanephrin und Normetanephrin im Plasma oder fraktioniertes Metanephrin im 24-Stunden-Urin)

    • „Highest risk“- und „High risk“-Mutationen: Ab 11 Jahren
    • „Moderate risk“-Mutationen: Ab 16 Jahren
  • MRT (oder CT) bei auffälligen Laborwerten

  • Bei Frauen mit MEN2 sollte vor einer geplanten Schwangerschaft ein Phäochromozytom ausgeschlossen werden. Bei bereits bestehender Schwangerschaft sollte die Diagnostik hinsichtlich eines Phäochromozytoms so rasch wie möglich erfolgen.

Schilddrüsenadenom und -hyperplasie

  • Jährliche Laborkontrollen bei Patienten, bei denen keine Entfernung der Nebenschilddrüsen durchgeführt wurde (Calcium, iPTH, 25-OH Vitamin D)

    • „High risk“-Mutationen: Ab 11 Jahren
    • „Moderate risk“-Mutationen: Ab 16 Jahren
    • „Highest risk“-Mutationen/MEN2B: Kein Screening erforderlich

Selbstfürsorge und Selbsthilfe

Worauf sollte ich besonders achten?

Je nach vorliegender Erkrankung können verschiedene Symptome auftreten. Sollten Sie eines dieser Symptome wahrnehmen, ist ein Arztbesuch dringend angeraten.

Das medulläre Schilddrüsenkarzinom kann sich durch Verdickungen am Hals, Heiserkeit oder Schluckstörungen äußern.

Ein Phäochromozytom ist gekennzeichnet durch erhöhten Blutdruck und Herzrasen. Dazu kommen eher unspezifische Zeichen wie Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Schwindel, blasse Haut und Gewichtsverlust.

Ein Hyperparathyreoidismus kann sich durch Knochenschmerzen äußern. Daneben kann es zum Auftreten von Nieren- oder Gallensteinen kommen, die Schmerzen im Bereich der Flanken bzw. im Oberbauch verursachen können.

Selbsthilfegruppen und weitere Informationen