Retinoblastom-Prädisposition – Definition
Das Retinoblastom (OMIM #180200) ist ein maligner Tumor der unreifen Retina, der auf Mutationen in beiden Allelen des RB1-Gens basiert und in der Regel vor dem 5. Lebensjahr auftritt. Dabei kann es zum uni- sowie zum bilateralen Auftreten des Tumors kommen. Die hereditäre Form des Retinoblastoms prädisponiert daneben für primitiv neuroektodermale Tumoren, wobei es sich in den meisten Fällen um das Pineoblastom handelt. Des Weiteren besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Zweittumoren wie Osteosarkomen und anderen Weichteilsarkomen, Tumoren der Nasenhöhle, des Auges und der Orbita, Melanomen sowie Hirntumoren.
Synonyme:
Gen:
RB1
in 1,5% der Fälle mit isoliertem unilateralen Retinoblastom: MYCN-Amplifikation
Genprodukte:
RB1
Funktion:
ubiquitäres nukleäres Phosphoprotein, dass in die Zellzyklus-Regulation (Übergang G1- in S-Phase) involviert ist
Erbgang:
autosomal-dominant
40% der Retinoblastome sind hereditär.
80% der hereditären Retinoblastome sind de novo Mutationen.
Prävalenz:
Inzidenz etwa 1:15.000-1:20.000 Lebendgeburten;
Inzidenzrate 3-5 pro 1 Million
Genotyp-Phänotyp-Korrelation:
Nonsense- und Frameshift-Mutationen in den Exons 2 bis 25 (die häufigsten Mutationen bei familiärem Auftreten) führen nahezu immer zu bilateralen Retinoblastomen hoher Penetranz.
Geringere Penetranz mit variabler Expressivität liegt bei Missense- und Promotormutationen sowie Spleißmutationen vor.
Patient:innen mit Mutationen geringerer Penetranz zeigen auch ein geringeres Risiko für das Auftreten von Zweittumoren.
Patient:innen mit vollständiger 13q-Deletion haben das gleiche Outcome für Retinoblastome und es kommt ebenfalls zum Auftreten von Pineoblastomen. Daneben weisen diese Patient:innen Gesichtsdysmorphien (antevertierte Ohren, breite Stirn, langes Philtrum) sowie unterschiedlich stark ausgeprägte neurologische Beeinträchtigungen auf.
Penetranz:
bei den meisten Mutationen 90-95%
Retinoblastom-Prädisposition – Diagnosestellung
Klinische Diagnostik
Der Verdacht auf ein Retinoblastom besteht bei folgenden Befunden:
- Leukokorie
- Strabismus
- Verändertes Aussehen des Auges
- Reduzierte Sehkraft
Durch eine ophthalmologische Untersuchung kann die Diagnose „Retinoblastom“ klinisch gesichert werden.
Genetische Diagnostik
Der Verdacht auf ein hereditäres Retinoblastom besteht bei folgenden Befunden:
- Jede:r Patient:in mit der Diagnose „Retinoblastom“, einschließlich unilaterale und bilaterale Beteiligung
- Patient:in mit Retinom
- Person mit positiver Familienanamnese hinsichtlich Retinoblastom
Durch genetische Diagnostik wird die Diagnose “Hereditäres Retinoblastom” gesichert. Sollte nach Sequenzanalyse und Deletions-/Duplikationsanalyse von RB1 kein pathologischer Befund vorliegen, kann eine Methylierungsanalyse des RB1-Promotors CpG-Insel erfolgen. Liegt keine Hypermethylierung des Promotors vor, kann auf eine MYCN-Amplifikation getestet werden, die in etwa 1,5% der Fälle mit isoliert unilateralem Retinoblastom vorkommt.
Differentialdiagnosen
Folgende Erkrankungen mit okulärer Beteiligung können klinisch dem Retinoblastom ähneln:
- Persistierender hyperplastischer primärer Glaskörper
- Morbus Coats
- Hereditäre Erkrankungen einschließlich Tuberöse Sklerose, Norrie-Syndrom, Bloch-Sulzberger-Syndrom (Incontinentia pigmenti), familiäre exsudative Vitreoretinopathie und von-Hippel-Lindau-Syndrom
Okulärer Befall von Toxocara canis (Hundespulwurm)
Klinische Präsentation
Klinisch wird differenziert zwischen uni-, bi- und trilateralem Retinoblastom.
Unilaterales Retinoblastom
Bei dieser Form ist nur ein Auge betroffen. Insgesamt liegt bei etwa 60% aller Retinoblastom-Patient:innen ein unilaterales Retinoblastom vor, bei nur 10-15% der Patient:innen mit hereditärem Retinoblastom tritt die Erkrankung unilateral auf. Das durchschnittliche Alter bei Diagnosestellung liegt bei 24 Monaten. In der Regel sind unilaterale Retinoblastome auch unifokal.
Bilaterales Retinoblastom
Bei dieser Form sind beide Augen betroffen. Insgesamt liegt bei etwa 40% aller Retinoblastom-Patient:innen ein bilaterales Retinoblastom vor, bei der Mehrzahl der Patient:innen mit hereditärem Retinoblastom tritt die Erkrankung bilateral auf. Das durchschnittliche Alter bei Diagnosestellung liegt bei 15 Monaten. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung sind meist bereits beide Augen betroffen.
Trilaterales Retinoblastom
Bei dieser Form tritt neben dem bilateralen (oder selten unilateralen) Retinoblastom ein primitiv neuroektordermaler Tumor (PNET) auf. Dabei handelt es sich meist um ein Pineoblastom, beschrieben sind jedoch auch Tumoren der supra- oder parasellären Regionen.
Weitere Tumoren
Bei Patient:innen mit Retinoblastom besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten weiterer extraokulärer Tumoren, so genannte Zweittumoren. Dabei handelt es sich um:
- Osteosarkome
- Weichteilsarkome (meist Leiomyosarkome oder Rhabdomyosarkome)
- Melanome
Diese entwickeln sich meist im Jugend- oder Erwachsenenalter. Die Inzidenz für Zweittumoren ist auf über 50% erhöht bei Retinoblastom-Patient:innen, die zuvor eine perkutane Strahlentherapie erhalten haben.
Besonderheiten bei der Behandlung
Die Behandlung des Retinoblastoms ist von vielen Faktoren abhängig und sollte interdisziplinär geplant und durchgeführt werden. Dabei geht es zunächst um die Entfernung des Tumors zur Sicherung des Überlebens und dies möglichst unter Erhalt der Sehfähigkeit und weiter um die Vermeidung von Zweittumoren. Die Wahl der Therapie variiert je nach Tumorstadium, Lokalisation und Größe des Tumors, Anzahl der Foci, Auftreten und Art extraokulärer Tumoren sowie verfügbaren Ressourcen. Therapieoptionen bestehen in Enukleation, Kryotherapie, lokaler und systemischer Chemotherapie, Laserkoagulation, Brachytherapie und als letzte Option kann die perkutane Strahlentherapie angewandt werden.
Wenn möglich, sollte jede Form von ionisierender Strahlung einschließlich Röntgen, CT und perkutaner Bestrahlung vermieden werden, um das Risiko für Zweittumoren möglichst gering zu halten.
Diagnose Retinoblastom-Prädisposition. Wie geht es weiter?
Nach der Diagnose ist es ratsam, die Weiterbehandlung von betroffenen Patient:innen durch eine:n Spezialist:in für dieses Krebsprädispositionssyndrom durchführen zu lassen. Im folgenden Abschnitt schildern wir Ihnen, ob Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung oder andere Maßnahmen erforderlich sind und wie diese erfolgen sollten. Zudem finden Sie am Ende dieser Seite noch ein paar weiterführende Informationen wie z.B. die Links von Selbsthilfegruppen.
Diagnose Retinoblastom-Prädisposition. Wie geht es weiter?
Nach der Diagnose ist es ratsam, die Weiterbehandlung von betroffenen Patient:innen durch eine:n Spezialist:in für dieses Krebsprädispositionssyndrom durchführen zu lassen. Im folgenden Abschnitt schildern wir Ihnen, ob Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung oder andere Maßnahmen erforderlich sind und wie diese erfolgen sollten. Zudem finden Sie am Ende dieser Seite noch ein paar weiterführende Informationen wie z.B. die Links von Selbsthilfegruppen.
Empfehlungen zur Früherkennung bei Ihren Patient:innen
Genetische Beratung
Diese spielt bei Patient:innen mit einem hereditären Retinoblastom eine große Rolle v.a. im Hinblick auf Früherkennungsuntersuchungen und das Risiko für die Entwicklung von Zweittumoren sowie bei der Betreuung von Geschwistern. Des Weiteren sollte eine genetische Beratung erneut durchgeführt werden, wenn Überlebende eines Retinoblastoms ins gebärfähige Alter kommen.
Untersuchungen zur Früherkennung
Für Patient:innen mit hereditärem Retinoblastom oder positiver Familienanamnese werden folgende Früherkennungsuntersuchungen vorgeschlagen:
Intraokuläre Retinoblastome
Alter | Frequenz |
---|---|
Geburt bis 8 Wochen | Untersuchungen ohne Sedierung alle 2 bis 4 Wochen |
8 Wochen bis 12 Monate | Untersuchungen unter Sedierung monatlich |
12 bis 24 Monate | Untersuchungen unter Sedierung alle 2 Monate |
24 bis 36 Monate | Untersuchungen unter Sedierung alle 3 Monate |
36 bis 48 Monate | Untersuchungen unter Sedierung alle 4 Monate |
48 bis 60 Monate | Untersuchungen unter Sedierung alle 6 Monate |
5 bis 7 Jahre | Untersuchungen ohne Sedierung alle 6 Monate |
Trilaterale Retinoblastome
- Kraniale MRT zum Zeitpunkt der Diagnose
- Einige Zentren empfehlen kraniale MRT alle 6 Monate bis zum Alter von 5 Jahren.
Zweittumore
- Aufklärung hinsichtlich des Risikos für Zweittumore und Achtsamkeit auf alle neuen Zeichen oder Symptome
- Untersuchungen der Haut im Rahmen regulärer Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter. Diese sollten jährlich fortgesetzt werden durch den:die Haus- bzw. Kinderärzt:in oder eine:n Dermatolog:in.
- Einige Zentren empfehlen jährliche Ganzkörper-MRT- Untersuchungen ab 8 Jahren.
Pränatale Diagnostik
Aufgrund geringer Daten ist bisher keine standardisierte Empfehlung verfügbar.
Nach heutigem Kenntnisstand ist für Patient:innen, bei denen die Tumordisposition bereits pränatal festgestellt wurde, kein günstigeres Ergebnis in Bezug auf die Therapie-bedingten Folgen zu erwarten. Eine diesbezüglich motivierte pränatale Diagnostik wird in Deutschland daher nicht empfohlen.
Bei der Untersuchung der Augen im Rahmen der U1-Untersuchung sollte auf möglicherweise schon erkennbare Zeichen eines Retinoblastoms (Leukokorie, Strabismus) geachtet werden. Die erste ophthalmologische Untersuchung zur dezidierten Früherkennung von Retinoblastomen sollte in einem auf Retinoblastome spezialisierten Zentrum für Augenheilkunde innerhalb von 14 Tagen nach der Geburt erfolgen.
Ophthalmologische Untersuchung zur Früherkennung sind nicht erkennbar erforderlich, wenn durch eine prädiktive Diagnostik direkt nach der Geburt ausgeschlossen werden konnte, dass das Kind die in der Familie bekannte krankheitsursächliche Veränderung geerbt hat (gezielte Untersuchung). Dazu sollte die Einverständniserklärung der Eltern bereits pränatal eingeholt werden, so dass bei Geburt Nabelschnurvenenblut für die genetische Diagnostik abgenommen werden kann. Ein Befundbericht liegt bei den meisten krankheitsursächlichen Veränderungen innerhalb von 1 Woche vor und damit vor dem Termin der ansonsten erforderlichen ersten ophthalmologische Untersuchung in einem auf Retinoblastome spezialisierten Zentrum.