Definition
Die Fanconi-Anämie (FA) ist ein meist rezessives Chromosomen-Instabilitäts-Syndrom, welches durch kongenitale Fehlbildungen, ein progredientes Knochenmarkversagen, ein erhöhtes Krebsrisiko und endokrinologische Auffälligkeiten charakterisiert ist. Bis heute wurden 23 FA-Gene identifiziert (FANCA-Y). Die korrespondierenden Genprodukte interagieren in einem komplexen Signalweg, der die Funktion hat, sogenannte “DNA interstrand cross-links“ (ICLs), zu reparieren.
Eckdaten
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Synonym | FA |
Gene | 23 bekannte FA-Gene; FANCA (60-70%), FANCC und FANCG (je etwa ~10%) |
Genprodukte | Reparaturproteine |
Funktion | Reparatur pathologischer DNA-Brücken zwischen komplementären DNA-Strängen (inter-strand cross-links, ICL) |
Erbgang | FANCB – X-chromosomal FANCR – autosomal-dominant alle anderen Subtypen – autosomal-rezessiv |
Prävalenz | 1:200.000 – 400.000 (homozygot, bei aschkenasischen Juden und Afrikanern 10x häufiger); 1: 300 (heterozygot) |
Genotyp- Phänotyp- Korrelation |
Patienten mit Mutation im Signalweg “später“ FA-Gene (z.B. FANCD1, FANCB) haben ein höheres Krebsrisiko. Patienten mit Mutationen in “frühen“ FA-Genen haben einen milderen Phänotyp. |
Penetranz | hoch, medianes Diagnosealter 6,5 Jahre; 90% der FA-Patienten sind im Alter von 40 Jahren zytopen |
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Diagnose
Vorgehen bei klinischem Verdacht und bei allen angeborenen Knochenmarkversagen:
Testung von Lymphozyten oder Fibroblasten (vorzugsweise bei V.a. somatisches Mosaik) in Kultur auf eine erhöhte spontane Chromosomenbrüchigkeit. Durch Zugabe von DNA-interkalierenden Substanzen (Diepoxybutan (DEB) oder Mitomycin C (MMC)) kann eine Steigerung der Chromosomenbrüchigkeit erreicht werden.
Durchflusszytometrie: Vermehrt Zellen mit G2-Arrest
Molekulargenetik (Next-Generation-Sequencing -> Gen-Panel-Analyse)
Bestimmung der FA-Subklasse ist entscheidend zur Abschätzung des Tumorrisikos bei homo- oder heterozygoten Mutationsträgern mit konsekutiven Empfehlungen zur Früherkennung, z.B. FANCD1 -> BRCA2-Mutation, bei Heterozygotie bereits deutlich erhöhtes Malignomrisiko für Mamma-und Ovarialkarzinome, bei Homozygotie -> Fanconi-Anämie
Differentialdiagnosen
SAA, MDS, angeborene Syndrome mit Knochenmarkversagen
DNA-Reparaturdefekte wie Nijmegen-Breakage-Syndrom, Bloom-Syndrom
Klinische Präsentation
Klinische Auffälligkeiten
60-70% der FA-Patienten zeigen offensichtliche klinische Auffälligkeiten:
Skelettale Fehlbildungen der oberen Extremität (klassischerweise Radiusstrahl und Daumen)
Hautpigmentveränderungen (Hyperpigmentierungen, Hypopigmentierungen, Vitiligo)
Kleinwuchs
Mikrozephalie, kleine Augen, breite Nasenwurzel, Mikrognathie und Epikanthus -> charakteristischer Gesichtsausdruck bei FA-Patienten
Fehlbildungen der inneren Organe, vorrangig Nieren und Herz
Endokrinologische Störungen (80% der Patienten):
- Kleinwuchs
- Hypothyreose
- herabgesetzte Glukosetoleranz
- Diabetes mellitus
- Hyperinsulinismus
Progredientes Knochenmarkversagen beginnend in der ersten Lebensdekade (oftmals das erste klinische Krankheitszeichen, das zu der Veranlassung weiterer Diagnostik führt)
Bi- oder Trizytopenie im Alter von 10 Jahren bei >80%, mit 40 Jahren 90% der FA-Patienten (Thrombozyten <100.000/µl, Hb <10g/dl, absolute Neutrophilenzahl <1000/µl)
Tumorprädisposition
Hämatologie:
MDS/AML (kumulative Inzidenz mit 40 Jahren 30-40%, in der Regel geht der AML ein MDS voraus; Beurteilung anhand der Morphologie (Blastenvermehrung oder Zunahme der Zellularität trotz persistierender Panzytopenie), Zytogenetik und Molekulargenetik (-7, EVI1-Veränderungen, RUNX1-Mutationen)
Onkologie:
Solide Tumore (kumulative Inzidenz mit 40 Jahren 28%):
Plattenepithelkarzinome der Kopf- und Halsregion (Risiko 500-700fach erhöht, 65% Mundhöhle, sehr aggressiv, 2-Jahres-Überleben <50%, weite chirurgische Exzision wenn möglich)
Plattenepithelkarzinome im Anogenitalbereich (insbesondere Vulvakarzinom, Risiko 2000-4000fach erhöht)
Lebertumore: meistens nur unter Androgentherapie benigne Leberadenome mit spontaner Regredienz nach Absetzen der Therapie, selten hepatozelluläre Karzinome
Medulloblastome
Nephroblastome
Besonderheiten bei der Behandlung
Bluttransfusionen/G-CSF bei therapiepflichtigen Zytopenien
Synthetische Androgene bei progredientem Knochenmarkversagen
Knochenmarkstransplantation bei fortgeschrittenem Knochenmarkversagen oder Zeichen der Transformation
Wachstumshormone zur Korrektur des Kleinwuchses
Keine Strahlenexposition, wenn verzichtbar bei Hypersensitivität gegenüber ionisierender Bestrahlung
Hypersensitivität gegenüber Alkylanzien (Cyclophosphamid, Ifosfamid, Melphalan, Mechlorethamin, Busulfan, Treosulfan, Nitrosoharnstoffe, Procarbazin und Dacarbazin, Temozolomid, Thiotepa, auch Platin-Derivate)
Patientenedukation hinsichtlich oraler Hygiene und monatlicher oraler Eigeninspektion auf Schleimhautveränderungen (respektive mit elterlicher Hilfe)
Verzicht auf Alkohol- und Tabakkonsum
Keine Gabe von Medikamenten, welche die Thrombozytenfunktion beeinträchtigen, wie nicht-steroidale Antiphlogistika (z.B. Ibuprofen).
Empfehlungen zur Früherkennung bei Ihren Patienten
Empfehlungen zur Früherkennung
Untersuchungsempfehlungen der AACR 2016
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Hämatologie |
Regelmäßige Blutbildkontrollen, jährliche Knochenmarkbeurteilung (KMP und Biopsie) basierend auf klinischer Einschätzung, frühzeitige Überweisung an ein Transplantationszentrum |
Onkologie |
Halbjährliche HNO-ärztliche Früherkennungsuntersuchungen ab früher Adoleszenz, jährliche gynäkologische Vorsorge ab Menarche, HPV-Impfung für Jungen und Mädchen ab Jugendalter empfohlen |
Immunologie |
Nach Empfehlung des Immunologen Monitoring der Immunglobulinwerte |
Dermatologie |
Jährliche hautärztliche Untersuchung |
Pulmologie |
Basisfunktionstestung mit Follow-up nach Bedarf |
Gastroenterologie |
Jährliche Leberfunktionstests, häufiger unter Androgentherapie |
Endokrinologie |
Jährlicher Diabetestest, Wachstumskurve |
Orthopädie |
Testung auf knöcherne Anlagestörung des Unterarmes und ggf. Management |
Urologie |
Basisuntersuchung auf Nierenfehlbildungen |
Kardiologie |
Basisuntersuchung auf Herzfehlbildungen |
HNO-Bereich |
Jährlicher Hörtest, halbjährliches Tumorvorsorgescreening ab 2. Lebensdekade |
Zahnarzt |
Halbjährliche Kontrollen (klinisch, kein Röntgen) |